Freilichtspiele Tecklenburg – von der Provinzbühne zum „deutschen Sommer-Broadway“. Eine Reportage2/12/2019
Tecklenburg ist ein Phänomen für sich. Am Rande des Münsterlandes gelegen meint man als Besucher, sich im Schwarzwald zu befinden. Schmale, serpentinenartige Straßen führen durch den kleinen Ort. Auf den Ortseingangsschildern steht „Festspielstadt“ geschrieben. An den Hängen wie auch in der übersichtlichen, aber dank vielfältiger Gastronomie einladenden Innenstadt reiht sich Fachwerkhaus an Fachwerkhaus. Inmitten des beschaulichen Städtchens, das 9.600 Seelen ihr Zuhause nennen, befindet sich die Freilichtbühne am Gipfel des höchsten Bergs.
Die Ruinen der Burg Tecklenburg wurden 1924 in das größte Freilichtmusiktheater Deutschlands umfunktioniert: 2.300 Sitzplätze – davon 1.800 seit 1993 überdacht – und eine Bühne, deren Ausmaße schätzungsweise bei 25 mal 10 Quadratmetern liegen – die große Kulisse Hintergrundkulisse nimmt 14 m Breite ein. Angelehnt an den Aufbau eines Amphitheaters, stand die Bühne lange Zeit in der Tradition der Freilichtbühnen und setzte die Sparten Oper und Operette auf den Spielplan.
In den 90er Jahren schließlich fand ein Umdenken statt. Sinkende Besucherzahlen gaben Anlass für ein neues Konzept, das nicht bei allen Beteiligten unmittelbar Freudensprünge auslöste. Man wagte es dennoch und inszenierte 1996 das Familienmusical „Hair“ – ein unerwarteter Erfolg. Der Weg war frei für ein modernes Konzept, das die Freilichtbühne völlig neu aufstellte und innerhalb weniger Jahre zu einem Publikumsmagneten der Region werden ließ. Im Fokus: Musicals. Die neuen Säulen: Pro Saison ein modernes, ein traditionelles und ein Musical für Kinder. Begleitet wurde und wird diese Erfolgsgeschichte von kreativen Köpfen, die großes persönliches Engagement einbringen, um Tecklenburg auch weiterhin auf Kurs zu halten. Intendant hat gesamten Entwicklungsprozess begleitet
Eine dieser Personen ist Radulf Beuleke. 1977 wurde er durch einen Bekannten als Verstärkung für den Chor angefragt. Alsbald übernahm er verantwortungsvolle Positionen und ist seit 1992 als künstlerischer Leiter tätig. Was der ehemalige Gymnasiallehrer lange Zeit nebenher stemmte, sozusagen nebenberuflich, ist seit seiner Pensionierung 2009 seine Hauptbeschäftigung. Als Intendant hat er die gesamte Entwicklung der Freilichtspiele miterlebt und aktiv mitgestaltet.
Während in den 60er und 70er Jahren um die 40.000 Zuschauer pro Saison zu Gast waren, sind es inzwischen – je nach Wetterlage – 95.000 bis 108.000. 80 Vorstellungen werden pro Saison gegeben, durch den Ticketverkauf wird ein ansehnlicher Etat eingespielt, der für die Finanzierung der nächsten Saison genutzt wird. Für 2018 stehen 2,85 Millionen Euro zur Verfügung, Subventionen gebe es kaum. Das Geld wird sinnvoll reinvestiert: In den vergangenen Jahren wurde immer wieder Renovierungsarbeiten durchgeführt und beispielsweise die Überdachung der Sitzplätze modernisiert. Das Profi-Ensemble, das jedes Jahr aus namhaften Darstellern der Branche besteht, besteht aus 30 Personen. Auf der Bühne kommen 90 Laiendarsteller hinzu. Außerdem gibt es bei jeder Vorstellung ein Live-Orchester mit erfahrenen Fachkräften. „Das haben wir uns qualitativ erarbeitet. Der Erfolg der letzten Jahre zeigt, dass wir wirtschaftlich autonom sein können“, erzählt Beuleke zufrieden. Die Basis für die Arbeit in Tecklenburg bildet der Förderverein FreilichtSpiele Tecklenburg e.V., auf dem ein professionelles Theater aufsetzt. Das Spektrum Beulekes Aufgaben ist umfangreich: Lizenzfragen in Hinblick auf neue Stücke, Personal-Akquise, Verträge und weitere Verwaltungsaufgaben. Pro Saison werden neben den professionellen Darstellern zwei Orchester mit jeweils 17-27 Mitgliedern, zwei musikalische Leiter und zwei Regisseure benötigt. Zudem ist er für die Koordination von Darstellern, Kostümbildnerei, Kulisse etc. zuständig, sowie für die grundsätzlichen konzeptionellen Ideen für eine innovative Realisierung der Stücke. „Wir sind vom Kopf her immer ein Jahr im Voraus“, sagt Beuleke. Die ersten Vorabsprachen für 2019 laufen bereits. Ungeahnte Möglichkeiten: Musicalklassiker mit Weltruhm
In seinem Büro in der Geschäftsstelle sitzt Beuleke mit übergeschlagenen Beinen entspannt auf einem roten Stuhl an der Längsseite des dunklen Konferenztisches. Die Tischplatte ist übersät mit Kratzern – hier wird gearbeitet. An den Wänden: Erinnerungen an die vergangenen Jahre. Gerahmte Bilder und Leinwanddrucke.
Ein schrilles Klingeln unterbricht seine Ausführungen: Das Telefon. Der schlanke 73-jährige springt auf, hastet zum Schreibtisch, auf dem sich mehrere Papierstapel türmen, und greift zum Hörer. „So geht das hier andauernd“, grinst er und zieht entschuldigend die Schultern nach oben. Der Blick fällt auf ein gerahmtes Bild, das vor dem Fenster steht. Darauf zu sehen: Das Ensemble von „Cats“. Beuleke erinnert sich an den überraschenden Anruf, den er 2014 erhielt. Man bot ihm an, den Broadway-Klassiker auf die Bühne bringen zu dürfen. Allerdings waren zwei Bedingungen mit dem Angebot verbunden. Zum einen solle Tecklenburg eine frische Neuinterpretation inszenieren. Zum anderen müsse sich Beuleke innerhalb einer halben Stunde zurückmelden. Die halbe Stunde habe er nicht gebraucht, gibt Beuleke verschmitzt lächelnd zu: Nachdem er perplex den Hörer aufgelegt habe und sich bewusstmachte, welch Chance dies bedeute, habe er prompt zurückgerufen. Für dieses Jahr steht ein nicht minder beliebter Klassiker auf dem Programm, der sich als Publikumsmagnet erweisen dürfte: „Les Misérables“. Der traditionell am 15. November startende Kartenvorverkauf liegt nach aktuellem Stand bereits über 30 % über den verkauften Karten der Vorsaison. Kreative Köpfe sorgen für Erfolgskurs
Das Team würfelt sich jedes Jahr neu zusammen. Tecklenburg leistet sich fünf feste Stellen, die in der Geschäftsstelle für Verwaltung und Organisatorisches zuständig sind. Hinzu kommen 40 Saisonangestellte, welche die Bereiche Technik, Schneiderei, Kulisse und Ordner abdecken. Manche von ihnen kommen immer wieder und gelten als fester Bestandteil der Truppe. Einige Mitarbeiter sind in den Theaterhäusern der Umgebung tätig.
Seit 23 Jahren begleitet auch Karin Alberti die Produktionen und ist seit 1996 als hauptverantwortliche Kostümbildnerin in Tecklenburg tätig. Ihr Reich ist die Schneiderei, welche sich im ausgebauten Dachboden über der Geschäftsstelle erstreckt. Über eine schmale Treppe führt der Weg nach oben, bis sich ein lichtdurchfluteter Raum offenbart. An den Wänden befinden sich Regale, prall gefüllt mit Stoffballen unterschiedlichster Qualität und Musterung, darunter Schubladen mit Kurzwaren. Im Hintergrund ist das unermüdliche Rattern mehrerer Nähmaschinen zu hören. Die Schreibtische sind vollgepackt mit allerlei Nähutensilien und Musterbögen für Zuschnitte der Kostüme. Insgesamt 18 Personen arbeiten hier, um rund 500 Kostüme für die Saison vorzubereiten. Neben der Kostümbildnerin sind drei Gewandmeisterinnen, eine Hutmacherin sowie Schneiderinnen und Dresserinnen vor Ort. Ergänzt werden die neuen Kreationen durch Leihgaben aus Theaterhäusern und aus dem Fundus, manche bereits vorhandenen Exemplare werden umgeschneidert und für die neuen Inszenierungen angepasst. „Teilweise arbeiten wir bis zur Premiere an der Fertigstellung“, wirft Gewandmeisterin Ann-Christin Kiefer ein. Das Team ist eingespielt: Drei hintereinanderliegende Räume bilden eine Produktionskette: Zuschnitt und Anproben, Näherei, Kostümlager. Die Stimmung wirkt konzentriert, aber dennoch entspannt. Alberti sitzt mit einer Tasse Kaffee am Schreibtisch und schwelgt in Erinnerungen. Liebe zum Detail
Die Tür fliegt auf und ein Mann mittleren Alters kommt die Treppe herauf. Albertis freundlich lächelndes Gesicht wird konzentriert: Anprobe – selbst bei den Kostümen der Statistenrollen muss jedes Detail stimmen. Eine der Gewandmeisterinnen hilft dem Darsteller in sein Kostüm, das aus einzelnen Stoffstücken besteht, die durch Stecknadeln zusammengehalten werden. Alberti mustert aufmerksam den Sitz. Fallen die Stoffe fließend bei Bewegung, hat der Darsteller genügend Bewegungsfreiheit? „Wir versuchen immer, alles möglich zu machen“, versichert die erfahrene Kostümbildnerin. Nach Ende der Saison gibt es eine dreiwöchige Pause, dann wird an den Produktionen für das folgende Jahr gearbeitet. Seit November 2017 feilt Alberti also am Kostümkonzept für 2018. Wie sie auf ihre Ideen komme? Sie lacht: „Das ist Design! Wenn ich morgens im Bett liege habe ich immer die besten Einfälle.“
Arbeit unter freiem Himmel als Besonderheit
Auch wenige Meter weiter wird tatkräftig an den Vorbereitungen für die nächste Premiere gearbeitet. Hinter der Geschäftsstelle schlängelt sich ein schmaler Pfad den Berg zur Ruine herauf. Bei strahlendem Sonnenschein arbeiten im Innenhof hinter den Mauern die Kulissenbauer. Hinter dem Schuppen, in dem die fertige Bühnenausstattung auf ihren Einsatz wartet, geht es durch einen Gang direkt auf die backsteinerne Bühne. Der Regisseur, die Kulissenbildnerin und der Tischler diskutieren angeregt über die bereits gestellten Hintergründe für Les Misérables. Am Rand der Bühne ist ein Klavier platziert, an dem die die beiden Hauptdarsteller Kevin Tarte und Patrick Stanke über ihre Notenblätter gebeugt ihre Rollen diskutieren.
Vor der Bühne sind nur vereinzelte Mitglieder des Ensembles zu sehen, die sich für die Probe des Prologs von Les Misérables vorbereiten. Mathias Meffert, der einige Nebenrollen übernimmt, ruft sich mittels Tablet die Tonfolge seines Parts ins Gedächtnis. Sein Kollege Jan Altenbockum geht während dessen seine handgeschriebenen Notizen durch. Beide sind schon seit einigen Jahren als Nebendarsteller dabei und freuen sich, jedes Jahr auf Neues angefragt zu werden: „Viele Kollegen wollen gerne mal in Tecklenburg arbeiten“, erzählt Altenbockum, „die Arbeitsatmosphäre ist hier einzigartig. Die haben hier ein Händchen dafür, Leute zusammenzubringen, die gut harmonieren.“ Was Tecklenburg außerdem ausmache? „Die Menschen sind hier mit der Bühne verwachsen, man kennt sich einfach“, ergänzt Meffert. Arbeit nah am Mensch
Vom Klavier ertönt Musik, Stanke gibt den Jean Valjean. Er greift zu einem Koffer, der auf der Bühne als einziges Requisit ein wenig verloren wirkt, und läuft während des Singens verschiedene Wege ab. In der dritten Reihe im Zuschauerraum hat es sich Tarte gemütlich gemacht. Legere, helle Freizeitkleidung, die Stimme durch ein Halstuch geschützt. Den einen Arm lässig über die Rückenlehne gelegt, den einen Fuß auf die Bank vor ihm aufgestellt, studiert er entspannt die Bewegungsmuster seines Bühnenpartners.
Vor zwei Jahren hat er das erste Mal in dem Stück „Artus“ in Tecklenburg auf der Bühne gestanden. Er halte Tecklenburg für die „schönsten Festspiele im deutschsprachigen Raum.“ Zum einen sei die die Bühne inmitten der Burgruine etwas ganz Besonderes, genauso wie die Landschaft, die er gerne in größeren Pausen erkunde. Er fügt hinzu: „Hier gibt es ein treues, begeistertes Publikum, das für eine super Atmosphäre sorgt.“ Zudem schätze er, dass man in Tecklenburg auf einem „sehr hohen, professionellen Niveau, aber dennoch bei herziger, familiärer Atmosphäre arbeite. Unter Musicaldarstellern hat Tecklenburg einen ausgezeichneten Ruf.“ Der gebürtige US-Amerikaner erzählt, dass es ihn schon immer nach Europa gezogen habe und nach seinem Engagement in Heidelberg in Deutschland gehalten habe. Zufrieden lächelnd fährt er fort: „Es war schon immer ein Traum von mir, diese Show zu singen, weshalb ich mich sehr über die Anfrage für die Rolle des Javert gefreut habe.“ Außergewöhnliche Chancen für Darsteller
„In Tecklenburg bieten wir den Profis Rollen, die sie sonst nicht spielen können. Für die meisten Stück erhalten die größeren Häuser keine Lizenzen, so dass die wir heiß begehrte Positionen bieten können“, erklärt Beuleke. „Die Entwicklungen der vergangenen Jahre ist unser Versuch, eine Vision zu realisieren. Es gab auch Hindernisse und Schwierigkeiten, aber wir haben uns weiterentwickelt und einen gewissen Satus etabliert. Wir bedienen nicht mehr die kleine Heimatnische, sondern sind akzeptierte Partner in der Branche. Wenn ich bei Stage, den Vereinigten Bühnen Wien, beim Theater des Westens oder aber bei Künstleragenturen oder Verlagen anrufe, weiß ich, wir arbeiten auf Augenhöhe.“ Auch wenn ein wenig Stolz in der Stimme mitschwingt, wird klar: In Tecklenburg wird bodenständig gearbeitet. „Wir müssen auf dem Teppich bleiben – und der ist nicht fliegend“, versichert Beuleke. Hier wird tatkräftig angepackt, um Stücke von Weltruhm erfolgreich auf die Bühne zu bringen – der deutsche Sommer-Broadway steht in den Startlöchern.
Copyright Bildmaterial: Sina-Christin Wilk, mit freundlicher Genehmigung von Freilichtspiele Tecklenburg e.V.
Erstveröffentlichung am 05. Juni 2018 im Theaterblog "AGON": http://theaterblog.scriptura-novitas.de/
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Autorin
Sina-Christin Wilk – freie Journalistin & Texterin mit Fokus auf Storytelling in Osnabrück
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