Die Spielzeit 2016/2017 im Osnabrücker Theater ist ganz den humanistischen Idealen der Toleranz und Menschlichkeit gewidmet. Demnach scheint es also naheliegend, dass eines der berühmtesten und zugleich philosophisch und avantgardistisch anmutenden Werke des Schriftstellers Gotthold Ephraim Lessings auf dem Spielplan stehen. Lessings Vision von einem selbstbestimmten Leben gemäß der Ideale des Humanismus und der Aufklärung sind heute noch von der gleichen Brisanz und Aktualität, wie zur Zeit seines Wirkens vor 200 Jahren. Außerdem beweist bereits die erste Inszenierung eines Lessing-Stücks in dieser Spielzeit, dass das Material außergewöhnliche und interessante Zugänge zur Thematik darbietet. Lessing selbst war aufgrund seines gesellschaftlichen Engagements überzeugtes Mitglied bei den Freimaurern, deren Existenz und Handeln bis heute von den spektakulärsten Gerüchten in der Öffentlichkeit begleitet wird. In seinem Werk „Ernst und Falk – Gespräche für Freimaurer“ zeichnet Lessing Gespräche zwischen zwei Freunden nach, die sich mit den existenziellen Fragen beschäftigen, die die Gestaltung einer vermeintlich utopischen, funktionierenden Gesellschaftskonstruktion zum Ziel haben. Zutiefst philosophisch: Zwei junge Männer – der eine Freimaurer, der andere auf der Suche nach Sinn und Erkenntnis – stellen debattieren über genau die Aspekte, die uns immer wieder umtreiben: Wie kann ein friedliches Miteinander gelingen? Freimaurer laden zur Erweiterung des Horizonts einDie Adaption des Werks, welches kaum als dramaturgische Vorlage für Literaturtheater zu taugen scheint – entbehrt es doch jeglicher Handlung und gibt lediglich die Gesprächssituation zwischen den beiden jungen Protagonisten wieder – stellt die Mitwirkenden vor eine ganz besondere Herausforderung, die sie findig gelöst haben. Entgegen des üblichen Prozederes öffnet die Osnabrücker Freimaurerloge „Zum Goldenen Rade“ ihre Pforten und lädt das Theaterpublikum in ihre Räumlichkeiten im Lortzinghaus ein. Hier erhält der textuelle Stoff, der zum Kanon der Freimaurer zählt, einen adäquaten Raum, den die beiden Darsteller Janosch Schulte (Ernst) und Stefan Haschke (Falk) brillant für szenische Darbietungen verteilt im ganzen Haus zu nutzen wissen. Der eigentliche Text, der häufig etwas sperrig wirkt, da er überaus facettenreich und häufig nicht wirklich fassbar erscheint, wird von den Verantwortlichen Birga Ipsen und Milena Kowalski inhaltlich überraschend zugänglich aufbereitet und durch minimalistisch aber gezielt eingesetzte Requisiten (Janine Hagedorn) optimal ergänzt. Gelungener Transfer des AusgangstextsGeradezu mühelos werden die Textpassagen Lessings einem Transfer in die Gegenwart unterzogen: Im Zuge einer Brunnenkur, während der die beiden Männer Heilwasser in rauen Mengen zu sich nehmen, tauschen sie sich über eine „fancy“ Ausstellung der Freimaurer in einer Berliner Galerie aus. Großzügig wird den Zuschauern Platz für Interpretationen des Gesprochenen mit deutlichem Aktualitätsbezug geboten, welche durch die Einspielung von O-Tönen, die in der örtlichen Fußgängerzone aufgezeichnet wurden, angefacht werden. Kurioseste Ansichten werden hier verbalisiert, die aufgrund ihrer Absurdität für ausgiebiges Gelächter unter den Besuchern sorgen: Einige Interviewte meinen, dass es sich bei den Freimaurern um eine Sekte handle. Ein anderer berichtet von dem Selbstmord eines Dorfarztes, der sich gerüchteweise aufgrund einer verlorenen Losung unter den Logenmitgliedern ereignet haben soll. Fruchtbarer Diskurs mit Aussicht auf ErkenntnisDie Theatergäste werden anhand von Momentaufnahmen der Gesprächssituationen durch die Loge vom Foyer bis in den Tempelsaal geführt und agieren dabei als stumme Teilnehmer der Diskussion um Idealismus. Immer wieder schreiten die beiden Darsteller durch das je nach Szene sitzende oder stehende Publikum und bindet dieses durch Gesten ein: Mal soll jemand eine Schnur oder eine Symbolkarte halten, oder die Schulter eines Besuchers dient einem Darsteller als Stütze. Die Darbietung Schultes und Haschkes wirkt wie eine intensive Auseinandersetzung mit dem Selbst, eine Art Selbstbefragung in Hinblick auf eine Verortung oder die Einnahme eines Standpunkts. Ein Denkanstoß, der jeden Anwesenden still fordert, ohne aber eine verbalisierte Stellungnahme zu erwarten. Dennoch werden hier zutiefst existenzielle Fragen nach dem menschlichen Miteinander aufgeworfen, die insgeheim alle Besucher ansprechen. Nach und nach erwächst aus dem anregenden Wortwechsel von Ernst und Falk ein fruchtbarer Diskurs, der Ernst sukzessive an die Bedeutung des Eigenverständnisses der Freimaurer heranführt und ihm ein Mantra als Zielsetzung mit auf den Weg gibt: „Gute Taten, die gute Taten entbehrlich machen sollen“. Heureka – oder doch nicht? Das Gedankenkarussel dreht sich weiterGegen Ende wird das gesamte Szenario auf eine Metaebene überführt, auf der Ernst und Falk Lessings wagemutigen – und historisch völlig unhaltbaren – Erklärungsversuch der Entstehung der Freimaurer mit viel Esprit und sketchartig in Pose gesetzten Fotos, die mit einem Diaprojektor an eine Leinwand geworfen werden, präsentieren. Meint man als Besucher gerade, den ein oder anderen Gedankenansatz aufgeschlüsselt zu haben, so wird man spätestens jetzt eines Besseren belehrt. Auf geradezu beeindruckende Weise führt letztendlich der Klimax dieses ganz besonderen Theaterabends das Ganze ad absurdum und hält noch lange vor: Das Gedankenkarussell dreht sich auf der Suche nach Erkenntnis weiter und ermöglicht auf vielfältige Weise die Einnahme neuer Perspektiven bzgl. der humanistischen Ideale von Toleranz und Freiheit. Ein innovativer Zugang zu Lessings tiefgründigen Stoff, der absolut gelungen in Szene gesetzt wurde! Mitwirkende: Inszenierung: Birga Ipsen Bühne und Kostüm: Janine Hagedorn Dramaturgie: Milena Kowalski Ernst: Janosch Schulte Falk: Stefan Haschke Uraufführung: 02.12.2016 Copyright Bildmaterial: Städtische Bühnen Osnabrück gGmbH, mit freundlicher Genehmigung vom Theater Osnabrück
Erstveröffentlichung am 03. Januar 2017 im Theaterblog "AGON": http://theaterblog.scriptura-novitas.de/
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Autorin
![]() Sina-Christin Wilk – freie Journalistin & Texterin mit Fokus auf Storytelling in Osnabrück
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